Die österreichische Hauptversammlung gilt nicht als Wohlfühl- oder Unterhaltungsveranstaltung. Das soll sie auch nicht sein. Das jährliche Aktionärstreffen ist eine Versammlung, in der berichtet, diskutiert und beschlossen wird. Dass dabei zuweilen rhetorisch gehobelt wird, gehört dazu.
In der heurigen Hauptversammlungssaison haben teilweise Aktivisten unterschiedliche Resonanz hervorgerufen. Während politisch-motivierte Protestierende die Sache der Ukraine auf der RBI-Hauptversammlung propagierten und eine Unterbrechung provozierten, wurden unlängst bei der Erste Group zahlreiche Fragen von Aktivisten mit Umweltschutzhintergrund gestellt. Einige Vertreter von Greenpeace stellten bei der VIG-Hauptversammlung sowohl Fragen, als auch scheiterten sie mit einer kleinen Protestaktion am wachen Sicherheitspersonal. In allen Fällen war die Versammlungsleitung äußerst souverän bzw. recht positiv gegenüber den teils spannenden Fragestellungen. Nicht wenige Aktionäre lehnen jegliche Intervention der „Nachhaltigkeitstypen“ grundsätzlich ab. Die Übervorteilung des Themas in der Nachhaltigkeitsberichterstattung genügt ihnen. Andere wiederum können dem Aktivismus gegenüber Verständnis aufbringen und sehen nur einen Spiegel des aktuellen gesellschaftlichen Zeitgeistes – jede Generation hat seine Aufreger. Protest muss nicht angenehm sein, um dennoch erlaubt zu sein. Einige Gesellschaften sind seit vielen Jahrzehnten, teilweise gar in drei Jahrhunderten, im HV-Kalender, man hat dort schon viel gesehen. Wo hört demnach eine kritische Beteiligung an einer Hauptversammlung auf, wo ist die Grenze überschritten?
Lehnt man sich bei grundsätzlichen juristischen Gedanken zur Versammlungsfreiheit an, so ist deren Friedlichkeit eine der Grundvoraussetzungen. Eine Beteiligung an einer Versammlung setzt keine Unterstützung des Versammlungsziels voraus, Protest und Widerspruch sind erlaubt. Wohl aber setzt die Beteiligung auch die Bereitschaft voraus, die Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen. Wer dagegen eine Versammlung in der Absicht aufsucht, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, kann nicht darauf hoffen, rechtlich entsprechend geschützt zu sein. Nun ist die Hauptversammlung eine weitgehend strukturierte gesellschaftsrechtliche Versammlung allerlei Tradition, deren Regeln insbesondere einen effizienten Ablauf gewährleisten sollen. Dabei kommt der Versammlungsleitung eine übergeordnete Rolle zu. Diese hilft sich bei der Grenzzeichnung zum Geduldeten mit Hausverstand, Hausordnung und im Notfall gar mit einer Hausmacht. Die Gewährleistung der Aktionärsrechte schwingt mit. In Summe eine sehr individuelle Lagebeurteilung mit Restrisiko ist nötig, die keine pauschale Antwort zulässt. Im Konfliktfall obliegt es daher dem Versammlungsleiter, die Grenze zwischen rechtmäßigem Protest und illegaler Störung zu ziehen, die jedenfalls bei Körperlichkeit erreicht wird.
Im Börsen-Kurier Nr. 22 am 28. Mai 2025 veröffentlicht von:

Florian Beckermann
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